Die Erkenntnis von der lebenskonstituierenden Bedeutung der Haptik ist nicht neu. Dass Säuglinge aber bereits im Mutterbauch positiv auf Berührungen von außerhalb reagieren, beweist nun eine Studie der University of Dundee.
An der Studie nahmen insgesamt 23 Frauen teil, die sich zwischen der 21. und der 33. Schwangerschaftswoche befanden. Ihnen wurden nacheinander drei Aufträge erteilt: Sie sollten ihren Babys etwas vorlesen, ihren Bauch streicheln oder einfach nichts tun.
Die Forscher zeichneten währenddessen die unterschiedlichen Reaktionen der Ungeborenen auf und stellten fest: Über Berührungen freuen sich die Babys am meisten. Aus der Studie ging außerdem hervor, dass ältere Föten stärker auf Berührungen reagieren, weil ihre Haut bereits sensibler ist.
Kein Wunder, denn unser haptischer Sinn entwickelt sich vom Mund an abwärts. In der achten Schwangerschaftswoche reagieren ungeborene Babys bereits auf Berührungen der Wange, nach zwölf Wochen beginnt das Daumenlutschen. In der 20. Schwangerschaftswoche können wir sogar schon greifen, während wir Temperatur, Druck und Schmerz erst ab Woche 32 empfinden.
Die Entdeckung der Haptik beginnt also bereits im Bauch der Mutter.
Schon bevor wir zur Welt kommen, beginnen wir damit, unseren Körper zu ertasten und unsere Umgebung per Berührung zu erkunden. Dadurch bekommen wir nicht nur ein Gefühl für uns selbst, sondern auch für unsere Umwelt.
Haptik als Grundstein für eine gesunde Entwicklung
Die Bedeutung unseres Tastsinns reißt auch nach der Geburt nicht ab. So sind haptische Erfahrungen während der ersten Monate unseres Lebens von besonders großer Wichtigkeit. Forscher untersuchten beispielsweise die Entwicklung von Neugeborenen in Waisenhäusern und die Entwicklung von Babys aus liebenden Familien.
Babys, die in Waisenhäusern haptisch vernachlässigt wurden, blieben bezüglich ihrer kognitiven und sozialen Entwicklung hinter den Altersgenossen aus intakten Familienverhältnissen zurück. Das schlimmste ist: Die Unterschiede verschwinden nicht und machen sich auch Jahre später noch bemerkbar.
So zeigen Kinder, die als Babys häufig berührt wurde, bis ins fünfte Lebensjahr bessere kognitive Fähigkeiten. Außerdem sind sie später weniger verhaltensauffällig, haben eine größere soziale Kompetenz und sind im Erwachsenenalter emotional stabiler.
Erfahrung durch Berührung
Die Lust an der Berührung zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben. Ob es nun um Zuneigung geht oder um die Exploration von Gegenständen: Im Zweifel vertrauen wir unserem Tastsinn.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass unsere haptische Wahrnehmung die Grundlage für andere Sinne bildet. Vollkommen unbekannte Gegenstände erkennen wir optisch beispielsweise nur schlecht – die Warnung „nur gucken, nicht anfassen“ existiert also nicht ohne Grund.
Wir erleben unsere Umwelt also nicht bloß passiv, sondern vor allem auch aktiv. Tagtäglich sind unsere Hände Bestandteil eines komplexen Alltags, der uns zahlreiche Fingerfertigkeiten abverlangt, ob wir nun einen PC bedienen, eine Notiz schreiben, zum Telefonhörer greifen, Schubladen schließen, mit Messer und Gabel essen, Türen aufschließen, ein Musikinstrument spielen oder schlicht gestikulieren.
Die Haptik erlaubt uns also, unsere Umwelt nicht bloß zu erfahren, sondern Einfluss auf sie zu nehmen. Wir betätigen uns handwerklich, lösen mit Schaltern elektrische Signale aus, begreifen, basteln und kombinieren, bis wir mit dem Endprodukt zufrieden sind.
Haptik ist Leben
Auch im hohen Alter können wir uns auf unseren Tastsinn verlassen, denn er ist der letzte Sinn, der uns verlässt. Besser noch: Wir können dem Verfall unserer Haptik gezielt entgegenwirken, indem wir Sport treiben und unsere motorischen Fähigkeiten schulen.
So wurde bereits in mehreren Studien nachgewiesen, dass aktive ältere Studienteilnehmer eine höhere Tastschärfe und bessere sensomotorische Fähigkeiten haben als gleichaltrige Menschen, die aber weniger oder gar keinen Sport treiben.
Die Erklärung für die anhaltende Fitness ist medizinischer Natur: Wenn wir uns physisch betätigen, schüttet unser Gehirn vermehrt Neurotrophine aus. Diese fördern wiederum das Nervenwachstum und stärken neuronale Verbindungen.
Außerdem hat die Haptik auch im Alter einen Einfluss auf unsere kognitiven Leistungen. Bewegung stärkt die intellektuellen Fähigkeiten als auch die Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsleistung.
Und wer je das 2011 von David Mackenzie gedrehte Science-Fiction Drama „Perfect Sense“ gesehen hat, wird die letzte Szene nicht vergessen: Nachdem eine Epidemie die Menschen schrittweise um ihre Sinne beraubt hat, verbleibt als letztes, finales Sinnenvermögen - in der völligen Dunkelheit der Erblindung - der Tastsinn.
Der Mensch ist in einer Kreisbewegung der Evolution wieder zu seinem hilflos-embryonalen Zustand zurückgekehrt, in dem alles Haptik ist – und die Haptik alles.