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Unser Orientierungssinn – verloren ohne Haptik?

Fühlbar weniger Orientierung? (Bild: clarita, morgueFile.com)

 

Jeder kennt die Horrorgeschichten: Autos werden in Flüsse gefahren, Fernfahrer bleiben im Wald stecken oder sie rasen mit Vollgas in eine unvorhergesehene Baustelle. Navigationssysteme erleichtern uns nicht bloß das Leben, sondern sie laden uns auch dazu ein, den eigenen Orientierungssinn vollständig auszulagern und den Anweisungen der elektronischen Stimme ergeben zu folgen.

Der Neurowissenschaftler John O’Keefe und das norwegische Forscherpaar May-Britt und Edvard Moser erhielten im vergangenen Jahr den Nobelpreis für eine Forschungsarbeit, die die Probleme entlarvt, die mit dieser Entwicklung einhergehen. Der erste Test mit Laborratten wurde bereits im Jahr 1971 durchgeführt und offenbarte erstaunliche Ergebnisse.

So stellte O‘Keefe fest, dass in den Gehirnen der Ratten spezielle Zellen aktiviert wurden - und zwar immer dann, wenn sie sich an einem bestimmten Ort befanden. Daraus schloss der US-Amerikaner, dass die Versuchstiere über eine Art innere Landkarte verfügen müssen, die sich meldet, sobald die Ratten ihre Umgebung wiedererkennen.

Jahrzehnte später vervollständigte das Ehepaar Moser die Forschungen und stieß in den Gehirnen der Ratten auf Orientierungszellen, die ähnlich arbeiten wie ein Koordinatensystem. Kombiniert man die Arbeit der Eheleute mit den Forschungsergebnissen von O’Keefe, so drängt sich der Verdacht auf, dass wir automatisch eine innere Karte speichern, sobald wir eine neue Stadt besuchen. Unsere Orientierung funktioniert also ausgesprochen gut.

Verantwortlich dafür sind in unserem Gehirn unterschiedliche Zellgruppen im Bereich des Hippocampus. Sie sind damit beschäftigt, uns durch unser Leben zu navigieren. Das GPS des Gehirns gewissermaßen.

Der Hippocampus wiederum „ist eine zentrale Schaltstation im limbischen System, die auch das Zentrum der Emotionen darstellt“.

Fühlbar mehr Orientierung

Nichtsdestotrotz fristen Landkarten und Atlanten seit einigen Jahren ein Schattendasein - und GPS-Systeme haben die Kontrolle über unsere Wege übernommen. Dirk Burghardt, Professor für Kartografie an der TU Dresden, betrachtet diese Entwicklung kritisch und ist sich sicher: "Wer lange nur nach Navi durch eine Stadt fährt, baut keine mentale Karte auf."

Auch die digitale Darstellung der Routen ist höchst unvorteilhaft, da sie dem Fahrer nur kleine Ausschnitte des Gesamtweges anzeigt. Dadurch betrachten wir stets nur einen Bruchteil des Weges und verlieren dabei das große Ganze aus den Augen. Es entsteht der Eindruck, als bestünde unser Reiseweg aus vielen kleinen Abschnitten - statt aus einer ganzheitlichen Strecke.

Michael Schreckenberg, Professor für Transport und Verkehr an der Uni Duisburg-Essen, stellt einen Vergleich zu Taschenrechnern her, denn nach einer gewissen Zeit verlerne man das Kopfrechnen. Und überhaupt: Die Abstumpfung durch Navigationssysteme ist wissenschaftlicher Konsens.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass moderne GPS-Geräte oft unseren haptischen Sinn vernachlässigen. So können wir die Reiseroute auf einer Landkarte ganzheitlich greifen, wenden, mit dem Stift etwas markieren und mit dem Zeigefinger verfolgen. Ein Navi hingegen verkündet punktgenaue Anweisungen und weist uns darauf hin, in 750 Metern links abzubiegen.

Eine menschlichere Maschinenmentalität?

Die Wissenschaft arbeitet bereits an einer Lösung: An der Uni Münster versucht eine interdisziplinäre Forschergruppe aus Geografen, Informatikern und Psychologen, ein Navigationsgerät zu entwickeln, das sich an menschlichen Wegbeschreibungen orientieren soll. Statt „In 750 Metern Autobahn verlassen“ könnte es zukünftig heißen „Nach dem VW-Händler links einordnen“ oder „Bei der nächsten Ampel links abbiegen“.

So versorgt uns das Navi der Zukunft zwar mit Anhalts- und Orientierungspunkten, nimmt uns aber nicht gleich die gesamte Orientierungsarbeit ab. Karten sollen zu diesem Zweck drastisch vereinfacht werden, ähnlich wie ein Fahrplan der Straßenbahn. Das sorgt für eine schematische Darstellung des Weges, ohne unseren Orientierungssinn allzu sehr zu entlasten.

Bisher stößt das Forschungsprojekt noch nicht auf den gewünschten Anklang und die Hersteller reagieren verhalten. Es gibt aber eine andere Lösung, die nicht nur kostengünstiger, sondern auch einfacher ist: Statt für jede Strecke das Navi anzuschalten, könnte man zwischendurch mal wieder eine Landkarte benutzen. Auf diese Weise landet kein Autofahrer im nächsten Fluss und uns bleibt eine verhasste Ansage erspart: „Route wird neu berechnet“.