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Der Haptik-Effekt-Blog
von Touchmore

Der multisensorische Geschmackssinn

Das perfekte Essen

Das Hirn isst mit © Alvimann, morguefile.com

Der Mensch besitzt nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sechs Geschmackswahrnehmungen: süß, sauer, salzig, bitter, fettig und umami (herzhaft). Wer glaubt, dass das alles sei, unterschätzt die Wechselwirkung unserer Sinne. Es sind nämlich nicht nur die Geschmacksrezeptoren unserer Zunge und Mundhöhle, die für unser geschmackliches Empfinden zuständig sind.

Töne, Gerüche, Haptik, visuelle Stimulation: Die Bausteine unserer Wahrnehmung bei der Nahrungsaufnahme sind ein eingespieltes Team und formen unseren multisensorischen Geschmackssin. So kann es durchaus passieren, dass uns ein Joghurt cremiger erscheint, wenn wir ihn mit Hilfe eines schweren Löffels zu uns nehmen.

Das Gehirn isst mit

Auch der Preis ist ein Gaukler: Teure Weine schmecken uns automatisch besser. Ob sie tatsächlich hochwertiger sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Unser Gehirn nimmt aufgrund des hohen Preises eine Erwartungshaltung ein, die es zu erfüllen gilt. Sprich: Wir erwarten wohlschmeckenden Wein, also bekommen wir ihn auch.

Das Wissen der Lebensmittelindustrie um die multisensorische Wahrnehmung von Nahrung und Getränken bei ihren Kunden ist alles andere als neu. So gestaltete beispielsweise der US-amerikanische Softdrink-Hersteller 7Up seine Getränkedosen bereits in den 1930ern um 15% gelber. Das Ergebnis: Die Kunden befanden den Geschmack der Limonade für zitroniger. Auch nicht neu ist die Erkenntnis, dass Rundungen süßer munden als scharfe Kanten.

Gastrophysik – eine neue Wissenschaft?

Heute hat das Phänomen vom Konzert der Sinne beim Essen einen (in)offiziellen Namen: Gastrophysik. Geprägt von Charles Spence, seines Zeichens Professor an der University of Oxford und einer der bedeutendsten Geschmacksforscher, fasst der Terminus nichts anderes als die gastronomische Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Dabei ist die Schar der Gastrophysik-Wissenschaftler illuster: Die Bandbreite reicht von Psychologen über Gehirnforscher und Sensorikwissenschaftler bis hin zu Verhaltensforschern, Designern und (Neuro-)Marketern.

Das breite gustatorische Forschungswissen, das Charles Spence und seine Mitstreiter angehäuft haben, ist seit kurzem auch als Buch verfügbar: „The Perfect Meal: The Multisensory Science of Food and Dining“, erschienen im Oktober 2014, von Spence gemeinsam mit Betina Piqueras-Fiszman verfasst.

Wer profitiert von diesem Wissen? Nur die Gastronomie?

Nun, die zuerst, aber nicht ausschließlich. Doch dazu später mehr. Zuerst unser Maître de Cuisine:

Er inszeniert geschickt den Schauplatz in seinem kulinarischen Tempel: ein stimmiges Gesamtambiente, passende Hintergrundmusik, anregendes Licht und Farbenspiel, die richtigen Pflanzen, haptisch ansprechendes Besteck, formschönes Geschirr und Gläser, die hinreißenden Kreationen der Menügänge auf weißem Edelporzellan, Gerüche – dies ist nur eine Auswahl aus dem Repertoire findiger Restaurantchefs, ihre Küchenkunst multisensorisch zu verstärken.

Ein cleverer Schachzug fürwahr, denn die Atmosphäre, der wir uns beim Essen hingeben, hat einen massiven Einfluss auf das Geschmackserlebnis. Genießen wir unseren Wein am Strand oder daheim vorm TV-Screen? Machen wir uns über die frisch geernteten Kartoffeln am Holztisch eines Bauernhofs her oder dinieren wir edel in der heimischen Designerküche?

Auch Geselligkeit spielt eine Rolle. So nehmen wir bis zu 35% mehr Nahrung auf, wenn wir uns den Tisch mit einer weiteren Person teilen. Genießen wir die Speisen zu viert, kann der Wert sogar um 75% ansteigen.

Der multisensorische Geschmackssinn

Charles Spence hat also mehrfach bewiesen, was wir zumindest schon lange geahnt haben: Unser Geschmackssinn interagiert ständig und intensiv mit anderen Sinnen. Er tritt eigentlich nie als Solist, losgelöst vom menschlichen Sinnesorchester, auf. Wer um diese Zusammenhänge weiß, kann den Geschmackssinn sogar regelrecht austricksen. Alles unterliegt dem multisensorischen Zusammenspiel unserer Wahrnehmung.

Und damit kommen wir zu den weiteren nützlichen Fingerzeigen der Gastrophysik.

Der eine geht in Richtung gesunde und maßvolle Ernährung. Eigentlich eine alte Erkenntnis: TV und Knabberzeug bringen jede Diät zum Absturz. Traurige Filme kurbeln die Knabbergeschwindigkeit gar an. Und überhaupt merkt man einfach nicht, wann der Körper genug hat.

Doch die Erkenntnisse der Gastrophysik eröffnen uns noch eine andere Perspektive – den Welthunger in den Griff zu bekommen. Charles Spence glaubt fest daran. Schließlich gibt es auf unserem Globus Eiweiß im Überfluss: Insekten.

Die will er der westlichen Welt schmackhaft machen. Er ist sich sicher: „Das ist die Zukunft!“Und wer – wenn nicht Mister Spence – kennt die unwiderstehlichen Rezepte?