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Der Haptik-Effekt-Blog
von Touchmore

Gehirne einer Ausstellung – Neuroforscher erstellt virtuelle Datenbank

Gehirne in der Glasvitrine? (Bild: Yoel, morgueFile.com)

 

Es wird zwar seit Jahrhunderten intensiv erforscht, doch unser Gehirn gehört immer noch zu den größten Mythen des menschlichen Körpers. Der Neuroforscher Dr. Jacopo Annese  ist ausgezogen, diesen Zustand zu ändern, und hat zu diesem Zweck die Digital Brain Library eröffnet – eine Art virtuelles Gedächtnis der Neuroforschung.

Wer eher eine schummrige Kammer erwartet hat, an deren Wänden sich Gehirne in Einweckgläsern stapeln, kommt hier natürlich weniger auf seine Kosten. Denn die wissenschaftlichen Asservatenkammern von gestern sind die Datenbanken von heute. Für diese Form der Archivierung bedarf es nicht nur einer ausgeklügelten Herangehensweise, sondern auch eines Grundverständnisses für unser wichtigstes Organ.

So haben sich nicht nur die Präparationsmöglichkeiten großschrittig weiterentwickelt – auch der Blickwinkel auf die Neurobiologie ist heute ein anderer. War es früher noch üblich, das Gehirn in einzelne Teilbereiche zu splitten, die für separate Funktionen zuständig sind, ist man heutzutage der Ansicht, dass unsere Denkzentrale ganzheitlich betrachtet werden muss.

Genau dort wittert Jacopo Annese das Potential seiner Datenbank. Sei es damals noch absolut normal gewesen, ein präpariertes Gehirn in seine Einzelteile zu zerlegen, um die unterschiedlichsten Neurowissenschaftler mit neuem Forschungsmaterial zu versorgen, so lege man in der Digital Brain Library komplette Gehirnprofile an, die nicht nur das Organ als Ganzes berücksichtigen, sondern auch noch öffentlich zugänglich sind.

Wie ein Gehirn zum Anschauungsmaterial wird

Das Anschauungsmaterial entsteht auf der Grundlage echter Gehirne. Diese stammen wiederum von Spendern, die dazu bereit sind, ihr wichtigstes Organ der Forschung zu stiften. Scheidet ein Spender aus dem Leben, wird er zunächst einer Kernspintomographie unterzogen. Anschließend wird sein letzter Beitrag zur Wissenschaft operativ entfernt. Dieser Vorgang nennt sich in der medizinischen Fachsprache Fensterung oder Fenestration.

Wurde das Denkorgan von seinem Spender getrennt, so wird es zunächst einige Monate lang in Formaldehyd gekühlt, damit sich die Oberfläche erhärtet. Anschließend nimmt es ein weiteres Bad – und zwar in einer Saccharoselösung. Der enthaltene Zucker ersetzt Wassermoleküle im Gehirn und bereitet den nächsten Schritt vor.

Nachdem das Präparat eingefroren wurde, geht es nämlich an dessen Zerlegung. Die läuft zwar vollautomatisch ab, für die Versorgung der entstehenden Einzelteile sind aber die Wissenschaftler verantwortlich. Dabei handelt es sich um ein echtes Mammutprojekt: Bei einer einzigen Zerlegung fallen ungefähr 2000 Einzelteile an, die sorgfältig sortiert werden wollen.

Wenn jedes der etwa 2000 Teile versorgt ist, geht es an die Digitalisierung. Dazu werden Fotografien angefertigt, deren Auflösung etwa 150 Mal kleiner ausfällt als der Durchmesser eines menschlichen Haares.

Es braucht eine Menge Ablichtungen, um nur ein Stück Gehirn zusammensetzen zu können. Und davon existieren – nur zur Erinnerung – 2000 Stück. Fotografiert man die größten Teile, können dann schon einmal 24 Stunden vergehen.

Mehr Gehirne für bessere Forschungsergebnisse

Dr. Annese möchte sich davon aber keinesfalls entmutigen lassen. Im Gegenteil: Er möchte noch deutlich mehr Spender gewinnen, um viele weitere Daten in die Digital Brain Library aufnehmen zu können. Diese sollen möglichst unterschiedlich sein, von Ärzten, Musikern, Handwerkern stammen. Auch das Alter spielt eine Rolle. Für das Forschungsprojekt sind sowohl alte als auch junge Organe von Interesse.

Bisher fanden sich 360 Spender. Für Hirnforscher Annese sind das natürlich noch viel zu wenige. Mindestens 1000 Denkorgane sollten es schon sein, um ein valideres Bild erstellen zu können. Man müsse sich schon wirklich viele Gehirne anschauen, um überhaupt Besonderheiten und Abweichungen ausmachen zu können – eine echte Herausforderung.

Aber der Wissenschaftler denkt indes schon deutlich weiter. Mit Hilfe seiner Digital Brain Library möchte er einen Ort kreieren, der Menschen dabei hilft, ihr wichtigstes Organ besser zu verstehen und zu akzeptieren. Mein Hirn und ich gewissermaßen. Oder was Sie schon immer über Ihre Gedankenzentrale wissen wollten…

Zu diesem Zweck hat er ein weiteres Projekt ins Rollen gebracht: das Institute for Brain and Society - eine Begegnungsstätte zwischen den objektiven Neurowissenschaften und dem Menschen.