3.5 Milliarden Jahre – diese gewaltige Zeitspanne veranlagen Evolutionsbiologen für die Entwicklung der menschlichen Hand. Das Resultat ist ein höchst feinfühliges und virtuoses Instrument, komponiert aus 27 und damit einem Viertel all unserer Knochen.
In der höchst komplexen Muskulatur arbeiten 33 Akteure zusammen, um Objekte zielgerichtet berühren und bewegen zu können. Zu den Grundfunktionen der Hand zählen „lateral motion“: seitliche Bewegung; „pressure“, drücken: „enclosure“, umfassen sowie „contour following“: Konturen verfolgen.
Für eingehendere Objektanalysen wurden zwei weitere typische Bewegungsmuster beobachtet: zum einen die Teileprüfung bei Gegenständen, die aus mindestens zwei Bausteinen bestehen, zum anderen die Funktionsprüfung, um die Bedeutung komplexerer, neuer Dinge zu erkunden.
Die Hand ist unser primäres Werkzeug, um Materie zu erfassen, zu begreifen, zu handhaben und zu behalten. Gleichzeitig weckt jede Berührung einen unbewusst gespeicherten Code, wie z.B. kuschelig und warm = soziale Nähe.
Die sensiblen Fingerkuppen sind so feinfühlig, dass sie sogar unsichtbare Erhebungen, in der Haptikforschung „Schwelle“ genannt, von einem Mikrometer „Höhe“ wahrnehmen können. Zur besseren Einschätzung: Ein Millimeter besteht aus 1.000 Mikrometern.
Schon vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, vor welchen Herausforderungen die Haptikforscher stehen, um z.B. Handprothesen herstellen zu können, deren haptische Fähigkeiten dem realen Vorbild so nahe wie möglich kommen.
Haptik Innovationen
Ein erster Durchbruch auf dem Feld der Haptik Innovationen gelang den Haptikforschern mit der Herstellung eines Chips, der Nervenreize registriert. Für den praktischen Einsatz konzentriert sich der Prothesenträger auf den Gedanken „Greifen“. Die dadurch produzierten elektrischen Signale landen z.B. im Oberarmmuskel und werden von dort an die künstliche Hand weitergefunkt.
Jüngst wurde eine weitere Hürde genommen – eine revolutionäre Entwicklung des DARPA-Forschungszentrums, dem US-Verteidigungsministerium angegliedert, sendet das mit einer Berührung verbundene Gefühl zurück ans Hirn.
Um dieses haptische Feedback zu ermöglichen, muss eine Elektrode in die für Bewegung zuständige Hirnregion eingepflanzt werden. Erste Praxistests waren erfolgreich: Ein 28-jähriger Querschnittsgelähmter unterzog sich dem chirurgischen Eingriff. Bei späteren Untersuchungen zeigte sich, dass der Proband auch mit verbundenen Augen sofort spürte, welcher der Finger seiner künstlichen Hand berührt wurde.
Apropos Possessivpronomen: Das Fühlerlebnis führt sukzessive dazu, dass der Nutzer die Kunsthand als Teil seiner Selbst empfindet und sie vermisst, wenn sie nicht greifbar ist.
Der Nahsinn wird zum Fernsinn
Die herausragende Haptik-Reportage von Adam Gopnik im Magazin The New Yorker, die ich bereits im letzten Blog erwähnt haben, nimmt uns auch mit auf eine kleine, interdisziplinäre Entdeckungsreise durch die Welt der neusten technischen Entwicklungen mit und für den Tastsinn.
So können wir demnächst z.B. eine schwedische Massage nicht nur per Email bestellen, sondern auch aus der Ferne genießen – zumindest wenn es weiter nach den Vorstellungen des verantwortlichen mexikanischen Ingenieurteams geht.
Die Fachkraft aus Stockholm bewegt ihre Hände über ein Pad mit Bewegungssensoren, die gleichzeitig exakt die Druckstärke der Finger übertragen, bis hin zum Genießer in Köln, der seinerseits auf einer synchronisierten Sensor-Matte liegt.
Ein Start-up-Unternehmen aus Utah – Tactical Haptics – hat gaming controls soviel taktiles Feingefühl eingehaucht, dass sie Bogenschießen in jeder Etappe spürbar machen können: vom Spannen über das Loszischen des Pfeils bis hin zum dumpfen Aufprall auf vibrierendem Boden, wenn der Feind – in diesem Fall lebensgroße Zombies – getroffen fällt.
Viel Fingerspitzengefühl zeichnet auch das haptische System aus, das Dr. Heather Culbertson vorstellte, die zuvor im berühmten GRASP lab arbeitete. Der von ihr entwickelte Sensor-Stift ermöglicht es, die Berührungsempfindung von 100 verschiedenen Texturen so zu spüren, als wären sie real. Der User wählt ein Material aus und fährt dann über eine neutrale Oberfläche, beispielsweise eine Arbeitsplatte.
Metall, Holz, Sandpapier, Luftpolster, Kaffeefilter ... Laut Gopnik fühlt sich der Kontakt zwischen Sensor-Stift und neutraler Berührungsfläche nicht nur genau wie die Originaltextur an, sondern die Empfindungen verändern sich zudem mit der Geschwindigkeit und dem Druck, der auf den Stift ausgeübt wird.
All diese und viele weitere Haptik Innovationen mehr stammen aus den letzten fünf Jahren. Und das ist nur der Anfang – die Haptikforschung ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht.
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