Kennen Sie dieses Gefühl? Mitten im Kundengespräch spüren Sie den Vibrationsalarm Ihres Smartphones, greifen dezent in die Jackentasche, riskieren einen heimlichen Blick – aber der Screen signalisiert keinen Anruf ...
Ein verbreitetes Phänomen, wie der Neurowissenschaftler David Linden von der John Hopkins Universität in Baltimore berichtet. Schätzungsweise 90 Prozent seiner Studenten hätten diesen Fehlalarm schon erlebt. Verantwortlich seien die Vater-Pacini-Körperchen im Daumen, die auf Vibrationsreize reagieren und in diesem Fall vom Empfänger falsch zugeordnet würden.
Linden ist einer von vielen spannenden Gesprächspartnern, die der Journalist Adam Gopnik für sein komplexes, hochinteressantes Feature „Feel me – What the new science of touch says about ourselves“ interviewt hat.
Der Phantom-Anruf wird als eines der Paradebeispiele aus dem Alltag gewertet, „dass die ganze Haut ein sensibles, (ein)schätzendes, Logik suchendes Organ der Wahrnehmung ist, eine Hülle mit einem Hirn in jedem Mikrozoll.“
Das bedeutet sehr viel Hirn. Denn die Haut ist unser größtes sensorisches System. Ihre bis dato unzähligen Rezeptoren, die in der Außenhaut siedeln und bis in die Muskeln, Gelenke und Sehnen reichen, empfangen ständig Millionen von passiven und aktiven Reize, registrieren jede Berührung und jede Bewegung –wecken großteils unbewusst mit Emotionen gespeiste Codes – Erfahrungsmuster, deren Grundstock im Alter von sieben Jahren bereits gelegt ist.
Ohne die taktile Erfahrung hätten wir weder einen Begriff von der Dingwelt noch von uns selbst und den anderen. Wie der deutsche Haptik-Pionier Prof. Martin Grunwald vom Haptik-Labor der Universität Leipzig betont: „Nur der Tastsinn kann uns unmittelbar versichern, dass wir da sind und die Welt außerhalb unseres Organismus’ ebenso. Sobald Menschen unsicher sind, wollen sie die Dinge anfassen.“
Linden unterstreicht die existenzielle Rolle der Haptik. So gut wie niemand sei „touch-blind“, das sei nicht kompatibel mit dem Leben.
Haptisches Selbstbild
Je tiefer die jetzt aufblühende Haptikforschung unter die Haut geht, als desto komplexer erweist sich die Materie – immer neue Rezeptortypen und -netzwerke werden entdeckt.
Auch die Differenzierung in der Forschung wächst. Neben Grundlagenstudien zur Haptik werden bestimmte Rezeptoren erforscht, somatosensorische Studien betrieben und immer funktionsfähigere Prothesen entwickelt ...
Im Mittelpunkt des Interesse steht nach Gopniks Recherchen bei allen das Zusammenspiel von „Haut und dem Sinn für uns Selbst“. Beim Treffen mit Katherine J. Kuchenbecker, Ph.D. Haptics Group, GRASP Laboratory, Universität Pennsylvania, verrät die „Queen of Haptics”, welche Entdeckung der Haptikforschung für sie die Kernerkenntnis der letzten Dekaden ist: „’Hautintelligenz’ ist so intelligent wie jede andere Art von intelligent.“
Kuchenbeckers Ziel ist es, intelligente Roboter zu entwickeln, die über das rein mechanische Funktionieren hinaus haptisch reagieren können – schließlich, mit dieser Intelligenz ausgestattet, ohne menschliche Intervention das Richtige tun.
Für die passionierte Forscherin ist haptische Intelligenz weit mehr als Geschicklichkeit. Denn nur mit ihr finden wir unseren Weg in der Welt. „It’s embodiment, emotion, attack.“
Körperliche Erfahrungen legen die Grundlagen für den Aufbau der Psyche. Der Tastsinn ist unser primärer Kanal für Gefühle und emotionale Bewertungen, ohne die jeder Gedanke wertlos wäre. Nur das haptische System ermöglicht uns, das Leben in Angriff zu nehmen.
Ohne Berührung könnte auch das menschliche Grundbedürfnis nach sozialer Nähe nicht gestillt werden. Mit weit reichenden Konsequenzen für das Bewusstsein des eigenen Ichs.
Für seine umfassende Reportage machte Gopnik auch einen interdisziplinär orientierten Wissenschaftler, u.a. mit Kenntnissen in der Hirnforschung, ausfindig. Der Psychologieprofessor Dacher Keltner, Universität Berkeley, ist Emotionsforscher. Er erinnert daran, dass der Tastsinn in der embryonalen Entwicklung als erster erwacht und das Fundament aller sozialen Beziehungen bildet: „Haut an Haut, Eltern und Kind, Berührungen sind die soziale Sprache unseres sozialen Lebens. Sie sind die Basis für alle zwischenmenschlichen Kontakte.“
Aus dieser Perspektive existieren wir immer in Beziehung zu anderen – nicht im Abgleich mit einer vagen Idee, die im Kopf ihr Eigenleben führt. Alle haptischen Erlebnisse bilden ihrerseits Hirnnahrung – jedes Berührungsgefühl, jede körperliche Bewegung, wen oder was wir wie und wie lange berühren ...
Ein permanenter Strom haptischer Signale, der uns durchdringt, bewegt und lenkt, meist unbewusst. Immer im Spiel: die Hände, unser bevorzugtes Fühl- und Prüf-Thermometer, unser primäres Werkzeug, um die materielle Welt zu be-greifen, zu verinnerlichen und zu handhaben.
Gopniks Conclusio zum Einfluss der Haptik auf unser Selbstbewusstsein: „What we see we long for; what we hear we interpret; what we touch we are.“
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