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Moderne Sklaverei - warum Multitasking unserem Hirn schadet

Multitasking - erstrebenswerte Tugend? (Bild: Unsplash)

Multitasking gehört im 21. Jahrhundert nicht nur zum guten Ton. Die ständige Verfügbarkeit in mehrfacher Ausführung ist zur regelrechten Tugend avanciert.

Doch führt Multitasking tatsächlich zu effizienterer Arbeit? Was passiert in unserem Gehirn, während wir uns mehreren Aufgaben gleichzeitig widmen? Und können wir überhaupt anders?

Unser Gehirn steht seit mehreren Jahrzehnten vor beinahe unlösbaren Aufgaben. Infomationen prasseln auf uns nieder, als stünden wir in einem Hagelschauer, dem wir nicht ausweichen können.

Nachrichten hier, Katzenfotos dort - ständig werden wir mit Dingen konfrontiert, die uns zum Lachen bringen sollen, die Betroffenheit zum Ziel haben oder die schlicht und ergreifend das kleine Zeitfenster füllen sollen, das wir "Mittagspause" nennen.

Doch damit nicht genug: Zusätzlich zu all diesem mehr oder weniger informativen Dauerstress haben wir deutlich mehr Arbeit um die Ohren, als es vor einigen Jahrzehnten der Fall war.

Wenn wir früher verreisen wollten, gingen wir in ein Reisebüro. Heute gibt es so viele Reiseportale mit Urlaubsangeboten im Web, dass wir ein Internetportal bräuchten, um uns das beste Reiseportal heraussuchen zu können.

Multitasking? Nur eine Illusion

Hinzu kommt das leidige Thema der Smartphones. Wörterbuch, Taschenrechner, Browser, Spielekonsole, Kamera, Lexikon, Navigationsgerät, Diktiergerät, Taschenlampe ...

So viele Funktionen wollen benutzt werden - am besten immer und gleichzeitig! Ist es nicht toll, dass wir jetzt während des Fernsehens nach Kochrezepten suchen können und die Einkaufsliste sofort in unsere To Do-App eintragen können? Ist es nicht der Wahnsinn, dass wir jede Warteschlage effizient nutzen können?

Auch wenn wir der festen Überzeugung sind, dass wir mehrere Dinge gleichzeitig erledigen, ist Multitasking eine Illusion.

Während wir denken, dass wir mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen, schalten wir eigentlich nur sehr schnell zwischen unterschiedlichen Tätigkeiten hin und her. Jeder dieser Umschaltprozesse kostet Energie, auch wenn wir das im entsprechenden Augenblick nicht merken. Wir schaffen also im Endeffekt nicht mehr, sondern weniger.

Der präfrontale Cortex lässt sich gerne ablenken

Außerdem wurde herausgefunden, dass Multitasking unsere Stresshormone aktiviert. Dadurch wird unser Gehirn überstimuliert, was zu Gedankenvernebelung führt. Viel schlimmer: Multitasking sorgt für eine Dopaminsucht, die unser Gehirn jedes Mal dann belohnt, wenn wir uns zugunsten einer Nebentätigkeit von unserer Hauptaufgabe abwenden. Das verstärkt die Suche nach ständig neuen Tätigkeiten abseits unserer eigentlichen Aufgabe.

Damit nicht genug, denn der Teil unseres Gehirns, der für unsere Konzentration zuständig ist, lässt sich gerne ablenken: der präfrontale Cortex. Jedes Mal, wenn wir uns während der Arbeit von einer SMS, einer Facebook-Nachricht, einem Geräusch in der Küche oder von einem Stück Schokolade ablenken lassen, bricht dieser Teil unserer Denkzentrale in Freudenströme aus und veranlasst die Ausschüttung eines Opiates, das dafür sorgt, dass wir uns gut fühlen.

Anstelle der großen Freude, die unser Gehirn nach der Bewältigung einer Mammutaufgabe empfindet, gieren wir nach kleinen - dafür aber ständigen - Reizen. Früher war es legitim, zwischendurch auch mal keine Zeit zu haben, in einer Besprechung zu sein oder zu Abend zu essen.

Heute verschlingt man ein Brötchen aus der Kantine während des Meetings, macht sich dabei Notizen und jongliert bestenfalls mit drei Smartphones, damit auch ja kein wichtiges Gespräch verpasst wird.

Doch nicht nur Multitasking an sich ist schädlich. Schon die Möglichkeit dazu, beispielsweise ein geöffnetes E-Mail-Programm, senkt unsere Konzentration um 10%. Vertraut man Glenn Wilson, einem Psychologieprofessor vom Gresham College in London, so arbeiten wir im Vergleich deutlich effizienter, wenn wir vor der zu erledigenden Aufgabe einen Joint rauchen - solange wir während der anschließenden Arbeitszeit keinen zusätzlichen Ablenkungen ausgesetzt sind.

Infomanie: das Gehirn sucht ständig neue Reize

Dieses Phänomen nennt sich Infomanie und besagt, dass unser Gehirn ständig auf der Suche nach neuen Reizen ist. Wenn wir das Facebook-Fenster also geöffnet haben, sind wir ständig verleitet, unsere Nachrichten zu checken oder unseren Newsfeed durchzuschauen.

Schließen wir hingegen alle Fenster, um uns tatsächlich nur auf eine Aufgabe zu konzentrieren, so stellt sich die Frage einer eventuellen Ablenkung gar nicht. Nicht umsonst gibt es mittlerweile zahlreiche Schreibprogramme für den Computer, die den Bildschirm aussehen lassen wie in leeres weißes Blatt.

Eine weitere These steuert Russ Poldrack bei, seines Zeichens Neurowissenschaftler an der Stanford University: Wenn wir multitasken, landen die Informationen, die wir aufzunehmen versuchen, im falschen Gehirnareal. Ein typisches Beispiel: Der Student, der während des Fernsehens lernt.

Die Vorlesung, der er sich gerade widmet, landet auf direktem Wege in dem Teil seines Gehirns, der für das Erlernen neuer Tätigkeiten zuständig ist - nicht in dem Teil, der Informationen und Fakten speichert.

Ohne die gleichzeitige Ablenkung durch den Fernseher  landet das neu Erlernte im sogenannten Hippocampus, wo es organisiert und sortiert wird. Nur so kann man sich gut an die neuen Informationen erinnern.

Ähnliche Phänomene sind in der Arbeitswelt zu beobachten, weshalb niemand mehr ohne einen Terminkalender oder To Do-Listen auskommt. Nichts wird gespeichert oder gemerkt: ab in die Cloud damit.

Doch was genau ist eigentlich der größte Ablenkungsfaktor im Arbeitsalltag? Firmenchefs, Wissenschaftler, Studenten, mittelständische Unternehmer und Autoren sind sich einig: E-Mails.

War es vor 100 Jahren noch mit deutlich mehr Aufwand verbunden, jemandem zu schreiben, weil man einen Brief handschriftlich verfassen, die richtige Adresse herausfinden und eine Briefmarke besorgen musste, so genügen heute ein paar Buchstaben auf der Tastatur und ein paar Mausklicks. Das führt dazu, dass nicht nur Nachrichten von größter Wichtigkeit verbreitet werden, sondern auch mittel- bis weniger wichtige.

Ab und zu das Tempo drosseln und nicht sofort reagieren

Hinzu kommt eine weitere Begebenheit: Menschen erfragen per E-Mail Dinge, die sie im Angesicht ihres Gesprächspartners nicht erfragen würden, beispielsweise brisante Informationen, Insider-Tipps oder schlicht Gefälligkeiten. Auch dieser psychologische Effekt sorgt dafür, dass wir deutlich mehr E-Mails verschicken, als wir Gespräche führen oder Briefe schreiben würden.

Die Antwortzeiten haben sich ebenfalls drastisch verkürzt. War es früher absolut normal, einen Brief nach dem Erhalt in Ruhe zu lesen, ihn möglicherweise einige Tage aufzubewahren und dann erst zu antworten, so gehört es heute zum guten Ton, ständig verfügbar und abrufbereit zu sein. E-Mails, die erst nach einer Woche beantwortet werden? Undenkbar.

Der Stress beginnt sogar schon vor der eigentlichen Antwort: Reagiere ich auf die E-Mail? Falls ja: Jetzt oder später? Wie wichtig ist die Nachricht? Hat es soziale, ökonomische oder berufliche Folgen, nicht auf diese E-Mail zu antworten?

Betrachtet man die Auswirkungen auf unser Gehirn, so sollten wir uns tatsächlich sehr gut überlegen, ob wir antworten. Reagieren wir nämlich auf eine Facebook-Nachricht oder auf eine E-Mail, dann schüttet unser Körper Dopamin aus, weil wir eine Aufgabe erledigt haben -  auch wenn uns diese Aufgabe eine Minute zuvor noch völlig unbekannt war. Das Ergebnis: unser Gehirn giert nach weiteren dieser Erfolgserlebnisse.

Es hat also durchaus seinen Sinn, ab und zu das Tempo zu drosseln und nicht sofort zu reagieren. Für das Checken der eigenen E-Mails kann man feste Zeiten einplanen.

Anrufe können auf die Mailbox umgeleitet und später beantwortet werden. Das vermeintlich gleichzeitige Erledigen verschiedener Aufgaben setzt unseren Kopf unter hohen Stress, auch wenn modernste Technik uns dazu verleitet. Lassen Sie sich nicht versklaven - Ihre Sinne werden es Ihnen danken.