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Der Haptik-Effekt-Blog
von Touchmore

Multisensorisches Lebensmitteldesign?

Wenn Essen und Verpackung eins werden

Multisensorisches Lebensmitteldesign © stapag

Wer sich für Neuromarketing und das multisensorische Zusammenspiel der Sinne interessiert, trifft eher früher als später auf Charles Spence. Der Oxforder Professor für Experimentalpsychologie widmet sich insbesondere unserem Geschmacksempfinden und dessen direkten Schnittstellen mit den anderen Körpersinnen.

Insbesondere haben es Spence die Zusammenhänge unseres Geschmacksempfindens mit der Akustik sowie unserer Wahrnehmung von Farben und Formen angetan. Im Laufe seiner Forschungsarbeit hat er viele Einblicke in die Arbeitsweise unseres Gehirns genommen und dabei u.a. bei seinem berühmt gewordenen “Pringles Experiment” entdeckt, wie unser Hirn zwei verschiedene sensorische Wahrnehmungen (hier das Kuspergeräusch und das taktile Empfinden des Chips mit dem Mund) zu einer einzigen multisensorischen Wahrnehmung des Geschmacksempfindens zusammensetzt.

In zahlreichen Experimenten und validen Studien hat der umtriebige Referent und Buchautor mehrfach bewiesen, was wir zumindest schon lange geahnt haben: Unser Geschmackssinn interagiert ständig und intensiv mit anderen Sinnen. Und zwar in einer Intensität, dass es dem Wissenschaftler schwerfällt, unserem Geschmackssinn die Qualität eines eigenständigen Sinnes zuzuerkennen. Sinnvoller ist da schon die Rede vom multisensorischen Geschmackssinn.

Das beginnt schon bei der Verpackung unserer Lebensmittel. In der vergangenen Woche habe ich mich mit diesem Thema in einem anderen Zusammenhang bereits näher beschäftigt: „Neurodesign: das neue Level von Packaging und Produktdesign“. Dabei ging es vor allem um das haptische Erleben.

Multisensorisches Lebensmitteldesign

Professor Spence zeigt, welchen Einfluss schon der Anblick einer Verpackung auf unser Geschmackserleben hat: “Sehsinn überrumpelt Geschmackssinn”. Einige Kostproben aus dem schier unerschöpflichen Fundus des Sinnenforschers gefällig?

Voilà: Erdbeermousse schmeckt 10 Prozent süßer, wenn es einer weißen Verpackung entnommen wird statt einer schwarzen. Kaffee schmeckt zweimal intensiver, aber nur zwei Drittel so süß wenn er aus einer weißen Verpackung und nicht aus einem durchsichtigen Glas genommen wird.

Zartbittere Toffees schmecken um 10 Prozent bitterer, wenn man während des Naschens Musik mit tiefen Tönen lauscht. Cookies erscheinen uns fester und knuspriger, wenn wir sie einer aufgerauten Holzschale entnehmen.

Für die Verpackungsindustrie sind die Spence-Studien zweifellos ein geradezu gefundenes Fressen. Der Urheber selbst ist dementsprechend auch ein stark nachgefragter Berater bei der Markenindustrie. Aber es geht Spence um deutlich mehr mit Blick auf die Umsetzung seiner Forschungsergebnisse. Und dabei verbindet der Experimentalpsychologe Verhaltensökonomie, Gerontologie, Gesundheits- und Ernährungswissenschaften.

“We are accustomed to thinking of food and its packaging as distinct phenomena, but to a brain seeking flavor they seem to be one and the same.” Die US-Bevölkerung deckt einen Großteil ihres täglichen Kalorienbedarfs direkt aus der Verpackung. Dieses Verhalten wird sich im Rahmen des Trends zur “Snackification” der westlichen Ernährunggewohnheiten massiv ausweiten.

Leben in einer andere Geschmackswelt

Hier identifiziert Spence einen Ansatz, auf die Lebensmittelindustrie einzuwirken, ihre Verpackungen auf der Basis seiner Forschungsergebnisse so zu gestalten, dass beispielsweise die Anteile von Salz und Zucker deutlich abgesenkt werden können.

Aber auch den Silver Agern gilt die Fürsorge des Briten. Er ist überzeugt, dass auch die Konsumenten jenseits der 70 von seinen Erkenntnissen profitieren können. “They live in a very different taste world”, konstatiert Spence mit Blick auf den im Alter nachlassenden Geschmacks- und Geruchsinn.

Unbeeinträchtigt bleiben hingegen die Wahrnehmungen von Farben, Formen und Tönen. Warum also nicht über die unbeeinträchtigten Sinne ausgleichen, was auf der anderen Seite an Verlust ensteht – multisensorisches Lebensmitteldesign: “How can we optimize the sensory design of food for these silver palates?”

Zum Beispiel mit Hilfe des Wissens, dass eine passende Begleitmusik die Einbußen des Geschmacksinns bei den Älteren ausgleichen kann. Charles Spence geriert sich mitnichten als Umsatz-getriebener Consulter und Freund der Marken.

Hier forscht und spricht eher der Philanthrop, der dem Menschen seine Sinnesfreude erhalten möchte und ihm neue sensorische Erfahrungen erschließen möchte: “For all his psychological insights, his real contribution may lie in allowing people to appreciate anew the rich, multisensory experience of eating.”